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Dem Griff zur Waffe geht Unausgesprochenes voraus

Er war damals sehr wütend, der kleine blonde Kerl. Gerademal in der vierten Klasse passierte, was er nicht mehr vergessen würde. Dieses Ereignis verfolgt ihn bis heute, zwar nicht ständig, aber immer mal wieder. Er war damals nicht der Starke in seiner Klasse, der andere war stark, alle waren dieser Meinung, Frank war der Starke.

Der kleine blonde Kerl kam nun seit zwei Tagen schon mit Mullbinden und Pflaster um den Kopf gewickelt zur Schule, der Arzt musste an seiner Wange eine Entzündung operieren. Für Frank eine gute Gelegenheit sich zu beweisen, die anderen, so meinte er wohl, forderten es förmlich heraus.

Zuerst ärgerte er den schwächeren Mitschüler und stupste ihn. Dann aber schlug er ihm auf die Wange: Einmal, zweimal: „Es tat so weh“. Die Wut kochte nun hoch in dem kleinen blonden Kerl, und sie kochte über. Mehr als drei wuchtige Schläge waren es nicht, aber Franks Lippe blutete, er hustete, massierte sich den Oberarm und verschwand drohend: „Dich kriege ich schon.“

Die anderen Gaffer machten sich eher wortkarg vom Pausenhof aber beteuerten im weggehen Frank mit vorgehaltener Hand, dass er ganz zu Unrecht angegriffen worden sei von diesem hinterhältigen Schwächling. Noch am selben Tag wurde der kleine Kerl von der Klassenlehrerin mit einem Verweis versehen: „Er sei aggressiv geworden, die anderen könnten das bezeugen!“

Diese Situation auf dem Pausenhof schlug zeitversetzt in der Schulklasse ein wie eine Bombe.

Die Lehrerin hat unbedacht entschieden, das war wohl allen klar, selbst den Gewinnern, und sie verlor ihr Ansehen. Die Klasse zerfiel in zwei Lager, ein größeres um Frank herum und ein ganz winziges, bestehend aus dem kleinen blonden Kerl und seine beiden Freunde. Die beiden Kontrahenten haben seit dem nie mehr ein Wort gewechselt, und die Pausen auf dem Schulhof waren seit dieser Begegnung ein Spannungsfeld.

Die kleine, fast harmonische Kultur einer Schulklasse war endgültig zerstört. Der Grund: Es blieb etwas unausgesprochen.

Was Kinder so erleben und erlernen, dauert oft nur wenige Augenblicke, reicht aber für ein Leben. Man wird wohl groß mit so erlebter Gewalt, die meist Ausdruck von Sprachunfähigkeit ist, und dann, wenn man später Erwachsen geworden ist, hat man oft nichts dazugelernt.

Auf diesem Pausenhof waren es „nur“ Hände von einander gegenüberstehenden Kindern die verletzten. Doch später können solche Hände auch zu Waffen greifen.

Die erste „Atomwaffe“ in der Geschichte der Menschheit war anfänglich – kurz nach der Entstehung des Neides – ein Knüppel, dann vielleicht ein Stein, später ein Pfeil und ihnen folgten Kugeln, Gas, Granaten und Bomben. Sie alle vernichteten Welten, weil etwas unausgesprochen blieb. Erst vernichteten sie den Mikrokosmos ungezählter Menschen, heute drohen sie den Makrokosmos Welt zu zerstören. Auch weiterhin geht jedem kriegerischen Griff zur Waffe Unausgesprochenes voraus.

Je länger der „Waffenarm“ der starken Menschen wurde, umso anonymer ist das Unausgesprochene. Dieses Unausgesprochene lässt Kommunikation nicht mehr zu, und diese Verhinderung ist der Nährboden des Krieges zwischen Menschen. Viele Jahre später haben Frank und der kleine blonde Kerl in ihren Schulen gelernt, dass das mit den heutigen Atomwaffen gar nicht so schlimm wäre. Es sei ja ausgewogen wenn nur die Stärksten Atomwaffen besäßen. Abschreckung durch Gleichgewicht nenne man das wohl.

Das klingt in Kinderohren sehr plausibel, so wie eine gelöste Rechenaufgabe. Doch in den Ohren derer, die sich nicht so leicht täuschen lassen, wie klingt das da?

So: Wer mit der unermesslichen Zerstörungskraft etwa einer Atombombe rechnet, der kann sich auch ungezählte zerfetzte Menschen vorstellen. Mit dieser sogenannten Ausgewogenheit können aber nur jene argumentieren, die das Unausgesprochene auch unausgesprochen sein lassen wollen. So war das auch schon bei den bisher geworfenen Atombomben, auch ihnen ging das Unausgesprochene voraus.

Wer heute auf Bomben setzt, egal in welchem Land, egal in welchem System, ist auch bereit, sie zu werfen, im Namen des Volkes und wird treffen, sein Volk!

Ist ihnen das zu unausgewogen? Stimmt! Atomwaffen lassen sich nicht auswiegen und Menschen nicht aufwiegen. Atomwaffen, alle Waffen sind unausgewogen, weil sie in den Tod wiegen, schleichend oder martialisch.

Frank und der kleine blonde Kerl hätten damals jemanden gebraucht, der ihnen überzeugend von dem Unausgesprochenen erzählt hätte, bevor sie ihren „kleinen Krieg“ auf dem Schulhof begonnen hätten.

Für uns heute, Frank und der kleine blonde Kerl sind groß geworden, könnte das oft Verschwiegene ausgesprochen so klingen: Mensch, ich habe dich nicht gemacht, so darf ich dich auch nicht zerstören, sei umarmt.

Klingt das immer noch zu einfach? Vielleicht, aber was wollen wir denn mehr „ins Feld führen“ als den Menschen und seine Sehnsucht zu leben!

Erschienen als geistliches Wort in der pax zeit: Zeitschrift der deutschen Sektion der internationalen katholischen Friedensbewegung pax christi, 3/2009
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