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Geheiligter Boden

Mit sehr gemischten Gefühlen betrat ich diesen Flecken Erde der weltweit im Spannungsfeld zwischen Hochachtung und faulem Zauber steht. Tausende von Menschen waren schon vor mir angekommen, kein Rummel, keine Attraktion des Zeitgeistes, nicht einmal lokale Persönlichkeit, einfach nur erhabene Stille im flüsterndem Vertrauen.

Dunkel weiß gekachelt, kein Schmuck, ein ca. 20 qm großer Raum, dominiert von einem drei Badewannen großen Becken in der Mitte, eingelassen in den Boden, zugänglich über fünf Treppen.

Mit einem Handtuch bekleidet wurde der junge Mann aus der Umkleide in den Baderaum geschoben und unserer Obhut anvertraut. Gespeist ist dieses Becken mit Wasser aus einer nahegelegenen Quelle, heilende Wirkung wird ihr zugesprochen. So pilgern jährlich einige hunderttausend hoffende Menschen in diesen heiligen Bezirk, betend und singend, sich der Nähe Gottes bewußt oder sie nur ahnend.

Auch dieser ungefähr 25 Jahre alte Mann, durch Muskelschwund auf Rollstuhl und Hilfe angewiesen. Gerade noch in der Lage den Kopf, Augen, Mund und Wangen aus eigener Kraft zu bewegen.

Als mir vor wenigen Wochen von dem Dienst in diesem Badehaus und von den Menschen, die es aufsuchen erzählt wurde, nahm ich mir vor, jede Anwandlung von Mitleid vor den Türen dieses Ortes menschlichen Leides und Hoffens abzulegen. Ich wollte nur helfen mit der Leichtigkeit Hilfe nicht als versteckte Hilflosigkeit spürbar werden zu lassen. Auch René sollte meine Muskeln nehmen wollen als gehörten sie in diesem Augenblick ihm.

Wir legten unsere Arme unter Oberschenkel und Achseln, kreuzten unseren je rechten und linken Arm auf dessen Rücken , hoben ihn mit seinen knapp 50 Kilo aus dem Rollstuhl und trugen ihn behutsam in das Becken. Bisher war noch kein Wort gefallen, nur seine Augen baten uns, unsere Körper ihm zu leihen.

Von zwei Männern gestützt, konnte René in diesem Becken nicht einfach umfallen. Sein Gesicht strahlte die ganze Energie aus, die seinen restlichen Gliedmaßen genommen war. Meine Empfindungen schwankten zwischen beiden Bedeutungen des einen Begriffes Sympathie: Mitleid und Liebenswert, oder war es nicht doch dasselbe?

Diese Gedanken, nein, diese Verwirrung der Gefühle unterbrachen Worte!
René betet: “Gott, wenn du da bist, bitte ich dich, hilf Pascal und Monique ihre Behinderung anzunehmen. Ihre Tränen heilen nicht. Ihre Verzweiflung findet keinen lebendigen Weg. Ich bitte dich für sie.”

Meinen Blick wandte ich ab, in seine Augen durfte ich nicht schauen, meine Tränen hätten verdunkelt, was er sah.

“Ich bitte dich für sie.”

Langsam schob ich René in seinem Rollstuhl Richtung Umkleide. Meine Hand sollte noch einmal seine breite Schulter berühren, ein Gruß! Regungslos schaute ich seinem Rollstuhl hinterher, ein Fremder verdeckte nun jeden Blick auf René, doch sein Gesicht, sein ganzer geliehener Leib blieb greifbar: René, dein Vertrauen hat diesen Boden geheiligt.

© Christoph Stender
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Ein Kommentar

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