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Haste mal ‘ne Mark für mich?

Advent aus einer anderen Perspektive

Wiedereinmal habe ich es gesehen, nicht gesucht, nicht entdeckt, nicht überrascht, nicht beunruhigt, einfach nur wiedereinmal gesehen. Wenige Sekunden nur stockte mein Schritt. Die Einkaufstüte mit den Jeans in meinen Händen war nicht mehr im Rhythmus mit meinem Gang, doch mein Laufschritt, geschickt kreuz und quer durch die Flut der vorweihnachtlichen Massen, ging unbeirrt weiter durch die Einkaufspassage, gezielt in das Geschäft für Designerartikel. Eher oberflächlich blieben meine Gedanken zurück. Eben hatte es den Namen: “Habe Hunger und friere”, heute vormittag hieß es: “Obdachlos und nichts zu essen”. Es hat viele Namen, täglich sind sie da: “Haste’ mal ‘ne Mark für mich?”, “Haftentlassen und keine Arbeit”, “Eine Mahlzeit reicht für meinen Hund und mich”, “Der Dom braucht Hilfe und ich auch”. Oder, in einer Bratpfanne, ein Zettel “für ein Essen” oder wortlos mit leidenden Gesichtszügen und ausgestreckter Hand eine Frau mit Kind…

Ich stehe an der Kasse und zahle das kleine Geschenk für meinen Freund. Es wird das einzige Geschenk sein, das ich dieses Jahr zu Weihnachten machen will. “Soll ich es Ihnen als Geschenk einpacken?” “Nein danke, auf den Kugelschreiber soll noch ein Name graviert werden, geben Sie mir ihn einfach so mit.” “Auf Wiedersehen und frohe Festtage!” “Danke, ebenso.” Erleichtert tänzle ich zurück, wieder durch die Massen und in Gedanken: “Der Stift wird ihm gefallen, er passt zu seinem ästhetischen Empfinden.”

Und wieder habe ich es gesehen, neben einem Türeingang hockend, davor das Schild: “Bitte etwas Kleingeld”. Und eine Pommesschale daneben auf den Pflastersteinen.

Immer wieder sehe ich sie, fast an jeder Ecke, bettelnde Menschen, die für mich keine Namen haben, Situationen, keine Schicksale. Manchmal mache ich einen Bogen um sie. So tun, als hätte ich es nicht gesehen, darauf hoffen, nicht angesprochen zu werden. Allen kann ich ja sowieso nicht helfen, und überhaupt, jede Mark, die ich gebe, wird ja doch nur in “Sprit” umgesetzt. Wer weiß, ob ihr dickes Auto an der nächsten Ecke steht und sie nur das schlechte Gewissen der Leute ausnutzen. Das soll es ja alles geben! Entschuldigungen, Unsicherheiten, Feigheit, Unbehagen und dieses beschissene Gefühl: zwei, drei Mark am Tag, das wäre doch kein Problem für dich! Doch ich werde sie nicht ausbezahlen können, auch fünf Mark oder mehr werden nicht genug sein; denn morgen werde ich mit Sicherheit ebenso feststellen: Wieder einmal habe ich es gesehen, nicht gesucht, nicht entdeckt, nicht überrascht, nicht beunruhigt, einfach nur wieder einmal gesehen.

Auch dann werden es namenlose Situationen sein. Beruhigen und ärgern wird mich auch morgen die Erkenntnis: Ich kann diese Welt nicht ändern. Es fehlt mir die Möglichkeit, Arbeit und Wohnung zu beschaffen, finanziell dauerhaft zu unterstützen bzw. zu kompensieren, was soziale Einrichtungen nicht leisten (oder leisten können). Ich weiß noch nicht einmal, ob diese Menschen, die ihre Hand mir entgegenstrecken, Schilder mit der Aufschrift um Hilfe vor sich hinstellen oder einfach fragen: “Haste’ mal ‘ne Mark für mich?”, mehr wollen als das, um was sie bitten!

All meiner Verunsicherung zum Trotz könnte ich stehen bleiben, vor ihren Schildern, Pommesschalen und Händen, stehen bleiben, wenn sie mir sagen: “Haste’ mal ‘ne Mark für mich?”, und sie nach ihrem Namen fragen.

Aus: Christoph Stender, Mit beiden Beinen auf der Erde, Bergmoser Höller Verlag
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