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Ach, den kenne ich

Ist das der Christus, den wir kennen? - Studie zum Turiner Grablinnen (Leichentuch I) von Herbert Falken (1973). Foto: Katalog

Warum sollte es Jesus anders ergehen als vielen seiner Zeitgenossen bzw. wie so manchem Menschen heute auch? Warum sollte er verschont bleiben von den täglichen kleinen Machtausübungen der lieben Mitmenschen, die vorgeben, von einem irgendetwas zu wissen. Warum sollte nicht auch er Opfer werden, wenn andere sich mit fraglichen Informationen über einen erheben und behaupten: “Ja, den kenne ich!”?

Es ist wichtig, jemanden zu kennen, Kenntnisse zu haben, sich auszukennen in bestimmten Situationen. Kenntnisse erleichtern uns die Orientierung in der Gesellschaft und entlasten den Alltag. Würden wir unsere Kenntnisse immer wieder vergessen, so müssten wir uns täglich neu die Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, die wir benötigen, um den neuen Tag zu managen, eigentlich jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Besonders zwischen-menschlich ist es sehr wichtig, Kenntnisse voneinander zu haben. Sie ermöglichen Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit und sie sind sogar dann notwendig, wenn man den anderen “mal auf den Arm nehmen will”.

Doch nicht selten hat die Behauptung, jemanden zu kennen, einen eher negativen Beigeschmack.

Denn die Aussage “ja, den kenne ich” meint nicht immer: “Ach, dieser Mensch ist einfach toll, eine Bereicherung, freundlich, großzügig und einfach liebenswert.”

Es klingt eben oft ganz anders: “Also, den kenne ich ganz genau, ich weiß, wie der gestrickt ist, ich kenne die Leichen, die er im Keller hat, also wisst ihr, der ist ja …”

Hier meint “kennen”: jemanden im Griff zu haben, ihn mit der eigenen Vorstellung beherrschen zu wollen und gefügig zu halten durch all das, was man vorgibt von ihm der Öffentlichkeit noch preisgeben zu können.

“Kennen” fordert hier, dass der andere so zu sein hat, wie es der vorgibt, der meint, einen zu kennen. Jemanden “kennen” will nicht, dass der, den man vorgibt zu kennen, sich verändert, also aus dem selbst gestrickten Raster ausschert. So kommt die Behauptung “ich kenne dich” einem Urteilsspruch gleich.

Konkret: Nehmen wir uns ernst und seien wir ehrlich: Diese “Art”, einen Menschen zu “kennen”, kennen wir doch auch.

Wenn wir uns nachhaltig der Frage “glauben heute” auf dem Hintergrund einer Kernaussage dieses Evangeliums stellen, die da lautet “diesen Jesus kennen wir doch”, dann gilt es erst einmal zu akzeptieren, dass wir solche Feststellungen auch kennen, die in ihrer Intention, sagen wir mal zurückhaltend, eher eingefärbt sind.

Mit dieser Annahme soll kein moralischer Zeigefinger erhoben werden nach dem Motto: “Ach, wie schlecht der Mensch doch wieder einmal zu sein scheint”. Nein, ich möchte einfach nur fragen, ob uns nicht eventuell etwas verloren geht, wenn wir diesem “ach, den kenne ich” vorschnell auf den Leim gehen.

Der Umgang, den Jesus im heutigen Evangelium erfährt, stellt uns vor Augen, wie der Reichtum des Menschen abhanden kommen kann, oder besser erst gar nicht entdeckt wird, wenn man auf einem “den kenne ich” beharrt. Bezogen auf diesen Ausschnitt aus dem Leben Jesu, lautet hier der Verlust auf den Punkt gebracht: Christus. Für die, die Jesus von klein auf kannten, war Jesus Jesus und dabei sollte es bitteschön auch bleiben, Veränderung unerwünscht, man “kennt ihn ja schließlich und endlich”.

Diese Menschen im Umfeld Jesu liefen Gefahr, dass ihnen der Sohn Gottes, das Wort des Vaters, der Heiler und Heiland, eben der ganze Christus, unbekannt blieb.

Aktuell stellt sich die Frage für uns: Wollen wir eine andere Sicht, eine Veränderung unserer Ansicht bezogen auf unser Gegenüber wahrhaben, oder ist der potenzielle Reichtum in der Veränderung unseres Gegenübers unerwünscht nach dem Motto: “Bleib einfach, wie ich dich kenne.” Mit Gegenüber meine ich jedoch nicht nur die uns vertrauten Menschen wie Familie, Freunde, Kolleginnen und Kollegen oder jene Menschen, die wir einfach im Vorübergehen in irgendwelche Schubladen stecken. Mit Gegenüber meine ich auch unser Christus- und Gottesbild. Also, was meinen Sie, Veränderung gewünscht oder bleibt es bei “Lass doch, ich kenne dich.”?

Übrigens: Finden Sie es nicht auch manchmal recht bedenklich, wenn Ihre Bekannten Jahr für Jahr immer wieder sagen: “Du hast dich gar nicht verändert, ganz der Alte.”? Wünschen wir uns nicht manchmal auch zu hören: “Mensch, du hast dich aber verändert”?

Erschienen in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 13.08.2006
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