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Ausgedient?

Gedanken zum Dienstbegriff

Von Michael Lejeune/Christoph Stender

1. Von Opfern, Gutmenschen und Dienern

Schweigend und etwas verstört ging er weiter, der Schüler aus der Mittelstufe einer Gesamtschule, gelegen in einer relativ behüteten Gegend. Den ihm auf dem Schulhof lautstark nachgerufenen Titel “du Opfer” wollte der Schüler nicht gehört haben. Einfach so tun, als sei man nicht gemeint gewesen – lautete wohl seine Devise. Soweit diese Beobachtung eines Religionslehrers. Allerdings ist das Weghören keine Garantie dafür, so der Religionslehrer später, dass nicht schon in der nächsten Pause derselbe Schüler von Mitschülern unüberhörbar wieder als Opfer tituliert und so öffentlich in ein diffuses Licht gestellt wird.

Dieses Phänomen, das z. B. Schüler auf Schulhöfen von mutmaßlich Gleichgesinnten als „Opfer“ bezeichnet werden, ist nicht die Ausnahme. Diese Bezeichnung Opfer ist auch nicht scherzhaft zu verstehen, sondern ist als ein indirekter verbaler Angriff zu werten. Denn der, dem der „Titel“ Opfer in Jugendkreisen angehängt wird, läuft Gefahr, wie Freiwild allgemein ausgeliefert zu sein, weil er schwach „geredet“ wird.

Der „moderne“ Gebrauch des Begriffes Opfer, wie im oben skizzierten Kontext benutzt, hat eine gravierend andere Bedeutung als seine ursprüngliche Verwendung, die mit dem Begriff Opfer auf jene hinwies, „die Unterstützung, Fürsorge, Hilfe und jede Art von Zuwendung benötigen. Ein Begriff für die, die ohne eigene Schuld durch Kriege und Gewalt, Straßenverkehr oder andere unglückliche Umstände zu Schaden, schlimmstenfalls ums Leben kommen.“[1]

Die „neue“ Intention des Wortes Opfer, der man heute in der Jugendkultur begegnet, hat mit der bisher üblichen Verwendung schlussendlich nichts mehr gemein. Als Opfer werden meist „junge männliche Personen bezeichnet, die sich nicht ausreichend wehren können oder auf andere Weise Schwächen zeigen und allgemein nicht einem Konzept von harter, starker und wehrhafter Männlichkeit entsprechen.“[2] Der Begriff Opfer muss in einer hier nicht genauer umrissenen Sprachkultur für eine Empfindung jener Menschen herhalten, die mutmaßlich jene, die schwächer
sind als sie selbst, „brandmarken“ wollen. Er bezeichnet hier also keine Menschen mehr, die durch widrige Umstände in eine defizitäre Situation geraten sind, sondern sein Bedeutungswandel nötigt die so Bezeichneten in eine defizitäre und negativ konnotierte Situation hinein. Ein weiterer Bedeutungswandel eines anderen Begriffes weist in dieselbe Richtung. Wenn der Begriff „Gutmensch“ auch weniger zum alltäglichen Sprachgebrauch zählt und auch eher keine Selbstbezeichnung ist, so bezeichnete er ursprünglich doch – wenn auch wenig dezidiert- etwas positives, nämlich Menschen, die bemüht waren „gut“ zu sein oder es auch sind, die man also als gute Menschen bezeichnen könnte. Auch dieser Begriff hat in jüngster Zeit eine neue Bedeutung erfahren und ist zum Unwort des Jahres 2015 avanciert, weil mit ihm „insbesondere diejenigen beschimpft werden, die sich ehrenamtlich z. B. in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. Mit dem Vorwurf Gutmensch, Gutbürger oder Gutmenschentum werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.“[3]

Wer demzufolge als Gutmensch bezeichnet wird, ist automatisch reduziert auf einen, der grundlos eher zu den Schwächlichen gezählt wird. Auch dieser, ursprünglich einen positiven Sachverhalt bezeichnende Begriff, bekommt in seiner aktuellen Nutzung eine neue negative Wendung. Stellen wir nun, zugegeben recht unwissenschaftlich und nur phänomenologisch betrachtet, in diese Reihe neben die Begriffe Opfer und Gutmensch den Begriff Diener, so vermittelt dieser auf Anhieb auch keinen positiven Eindruck. Dienen, und somit etwas von einem Diener an sich zu haben, klingt in der Tat im aktuellen Gebrauch auch unter Jugendlichen eher nach Schwäche, Verlieren und Erfolglosigkeit. Dienenden Menschen wird von bestimmten Gruppierungen die Aura von Minderwertigkeit, Fußabtretern oder Dummies angeheftet, die aufgrund ihrer Weltfremdheit nicht nur auf der Verliererseite stehen, sondern deshalb auch ruhig gebrandmarkt werden dürfen.

Zu dienen hat nicht wirklich etwas Anziehendes, auch wenn es noch im aktiven Sprachgebrauch Bezeichnungen gibt wie Staatsdiener, Bedienstete, der Diener der Diener, Messdiener,  Dienstnehmer oder Bedienung.

2. Wir werden vor den Dienst gestellt

Aus biblischer Perspektive kommen wir allerdings an der Besinnung auf die Begriffe Diener und Dienst so ohne weiteres nicht vorbei. So berichtet der Evangelist Matthäus immer wieder aktuell von der Bedeutung des Dienens dem Verständnis Jesu entsprechend:

„Und Jesus zog hinauf nach Jerusalem und nahm die zwölf Jünger beiseite und sprach zu ihnen auf dem Wege: Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird  den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Heiden überantworten, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen; und am dritten Tage wird er auferstehen.

Da trat zu ihm die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und wollte ihn um etwas bitten. Und er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sprach zu ihm: Lass diese meine beiden Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.

Aber Jesus antwortete und sprach: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie antworteten ihm: Ja, das können wir. Er sprach zu ihnen: Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu. Das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist von meinem Vater. Als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder. Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mt 20,17–28).

Die biblische Überlieferung[4] lässt keinen Zweifel daran, dass wir uns mit dem Thema des Dienens auseinander zu setzen haben, ob gelegen oder ungelegen. Denn die Überlieferung formuliert eine Dienstanweisung von oberster Stelle, die schon vor über 2000 Jahre auf den „Dienstweg“ gebracht wurde. Der „Chef“ damals wie heute ist der, auf den wir uns beziehen, wenn wir für uns die „Bezeichnung“ Christinnen und Christen bemühen.

Bei dieser Anweisung, die der „Chef“ jedem in seinem Team in den „Bekenntnisvertrag“ geschrieben hat, handelt es sich nicht etwa um eine Kann-Regel, die in die Beliebigkeit gefühlsbedingter Entscheidungsfreudigkeit gestellt ist, sondern um eine Soll-Regel, die es einzuholen gilt.

„Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20, 28).

3. Dienen im Gebrauch

Der Begriff des Dienens, seine sprachliche Herkunft, sein heutiger Gebrauch in den unterschiedlichen Sprachen, sowie seine Bedeutung und Deutung in der Gesellschaft sind nicht eindeutig. Die im Folgenden angedeutete Spanne allein im antiken Sprachgebrauch eröffnet einen Raum, in dem der Begriff des Dienstes keine einseitige Betrachtung finden muss, und somit sich als ein Begriff
generiert, der „ent–faltet“ werden sollte. Diesem Ziel, zur Ent–faltung“ des Begriffes Dienst und dienen anzuregen und ihn in einen neuen Bezug setzen zu können, dient dieser Artikel.

Neutestamentlich

Das Neue Testament kennt verschiedene Dienstverhältnisse, die ihren sprachlichen Ausdruck in mehreren griechischen Begriffen finden.

„Einer der zentralen griechischen Dienstbegriffe ist das Verb δουλεύω und seine Ableitungen, die das Dienen eines Sklaven bzw. einer Sklavin umschreiben und somit den Hauptakzent auf das abhängige, unfreie Dienen legen und in der Regel einen eher abschätzig-entwürdigenden Klang haben. Im zeremoniell-höfischen Sprachgebrauch des Vorderen Orients konnten jedoch auch hohe Beamte als „Sklaven des Königs“ bezeichnet werden, was in diesem Fall einem Ehrentitel gleichkam.“[5]

Des Weiteren ist anzumerken: „Neuere Forschungen (Collins 1990; Hentschel 2007) zeigen jedoch dass die griechische Wortgruppe mit dem deutschen Begriff ,dienen‘ in der Regel nicht adäquat wiedergegeben ist. Vielmehr geht es um Beauftragungen, wobei der oder die Beauftragte (diakonos) im Namen des Auftraggebers agiert und dabei, je nach Art der Beauftragung, durchaus mit Autorität den Menschen gegenübertreten kann, zu denen sie oder er gesandt ist.“[6]

Was dient jetzt?

Denkt man heute an Leute im Dienst, so kommen einem wahrscheinlich Soldaten, Beamten oder andere Berufsformen in den Sinn, die auch vom Namen her einen Dienst am Staat leisten. Ein markantes und wohl auch bekanntes Beispiel für den „Beruf“ des Dieners sind die Saaldiener im Bundestag, mit dunkelblauer Livree, weißer Fliege, Goldknöpfen und Bundesadler, sorgen sie doch im Hintergrund dafür, dass der Politikbetrieb nicht gestört wird: Es werden Stühle zurechtgerückt, Mikrofone kontrolliert, Eingänge kontrolliert, Wasser gereicht und weitere Aufgaben übernommen, die man gemeinhin als Service beschreiben könnte. Und doch war zur Geburt der Bundesrepublik nur eine grüne Armbinde Erkennungszeichen für den Saaldiener. Darauf geschrieben stand die Abteilung: Hilfsdienst, Hausdienst oder Ordnungsdienst.

In allen anderen Bereichen haben sich die Begriffe gewandelt, eine Dienstleistung nennt sich nun Service; und auch wenn das Wort mit dem Englischen sehr bedeutungsnah ist, ist der Service der modernen Gesellschaft fernab vom Dienst angesiedelt. Es hat sich eine abgeschwächte Form des Dienstes entwickelt.

Service hilft, aber dient nicht

Fast alle Berufe, die früher mit dem Begriff des Dienens in Verbindung standen, sind mittlerweile durch zahlreiche Wortkombinationen ersetzt worden, die sprachlich immer mehr Service bekennen.

Wo unterscheidet sich nun aber der klassische Dienst vom Service?

Subjektiv betrachtet scheint der Service dem Kunden zu dienen, oder zumindest von Nutzen zu sein. Und so finden wir heute beim Service nicht den Dienst, sondern die Hilfeleistung. Hilfe scheint attraktiver, ist sie doch meist zeitlich begrenzt zu verstehen; man bietet seine Hilfe an, um ein Problem zu lösen, eine Situation zu vereinfachen oder eine Unannehmlichkeit aus der Welt zu schaffen. Hilfe ist auch dankenswert: Eine Hand wäscht die andere, der Eine hilft dem Anderen.

Landläufig verstanden basiert der Dienst nicht auf einer „Gleichberechtigung“ beider Akteure, dem, der den Dienst tut (Dienstgeber) und dem, der den Dienst nimmt (Dienstnehmer). Die Dienste werden meistens als selbstverständlich wahr- und hingenommen, selten gedankt und manchmal erst gar nicht bewusst zur Kenntnis genommen. So zu dienen, quasi die zeitlich unbegrenzte Hilfe, beinhaltet auch eine Verpflichtung, sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber dem, der den Dienst empfängt (Dienstherr).

Betätigung

Sein Betätigungsfeld zu finden, in dem man sich dienend sieht, kann angesichts der Not, die in der Welt vorhanden ist, schwieriger und hoffnungsloser sein, als mal eben seinen Mitmenschen unter die Arme zu greifen.

In Fargo, einer US-amerikanischen Serie, ist eines Abends Gus, ein Streifenpolizist, überfordert von dem Übel in der Welt und spricht mit einem Rabbiner, der ihm die folgende Geschichte des Jeremy Hoffstead erzählte, der das Leiden der Welt lindern wollte: Erst spendet er all sein Geld, dann seine Leber, merkt jedoch, dass auch dies das Leiden nicht lindert. Schlussendlich sucht er den Freitod, um all seine Organe spenden zu können. Auf die Frage, ob damit das Leiden gestoppt wurde, antwortet der Rabbiner, dass nur ein Verrückter glauben könne, die Probleme der Welt zu lösen. Daraufhin erwidert der Streifenpolizist Gus: „Ja, aber man muss es doch versuchen, oder?“

Eben jenes Versuchen macht das Dienen so unheimlich viel schwieriger als ein aufgabenbezogenes Helfen. Sich in den Dienst zu stellen und vielleicht während der ganzen verbleibenden Lebenszeit keine Auswirkung des Dienstes selbst zu erfahren bzw. gar rückgemeldet zu bekommen, ist ein Schicksal, das mehr Leute teilen, als es zunächst den Anschein erweckt.

Die Ereignisse der letzten Monate lassen auch einen Blick auf unseren Umgang mit den Flüchtlingen zu, die in unserem Land Schutz suchen. Was ist gemeint und/oder gefordert, wenn von einem Willkommensakt oder gleich einer Willkommenskultur gesprochen wird? Ist die große Bereitschaft von Menschen, sich der Nöte von Flüchtlingen anzunehmen, ein kollektiver Dienst oder eine Ansammlung von Hilfestellungen?

4. Wir dürfen den Diener, die Dienerin nicht gehen lassen!

Den Begriff des Dienstes bzw. des Dienens gilt es neu zu entdecken, um ihn u. a. aus der Ecke des vermeintlich Schwachen heraus zu holen, in den ihn die vermeintlich Starken stellen.

Dies ist lohnenswert, nicht nur weil der Dienst im Gegenüber vom Herrschen eine Forderung Jesu ist, sondern weil das Nachdenken über den Dienst neu Blickwinkel öffnet, mit denen Menschen in unserer Gesellschaft aufeinander schauen können, um zu einer besseren Lebensqualität in unserer Gesellschaft beizutragen.

Wer weiß, ob Dienen Segen bringt?

Die Ungewissheit, mit welchem Erfolg das eigene Handeln gesegnet ist, hat nicht wenige Menschen im Laufe ihres Lebens am Dienst zweifeln lassen. Schon in den Erzählungen über als Heilige
verehrte Menschen ist der Moment der „Abrechnung“, der Moment, in dem das Dienen den Verlierer zum Gewinner macht, von diesen als heilig verehrten Menschen selbst nicht erlebt worden.

Die meisten Menschen im 21. Jahrhundert sind z. B. weit entfernt von denen von der Kanzel predigenden Anweisern (sofern es sie noch gibt), die meinen, die Menschen unter Verweis auf die Heiligen in der richtigen Nachfolge als Dienende unterrichten zu müssen. Trotzdem ist in unserer Gesellschaft die Anforderung präsent, sich selbst eben passend einen Bereich zu suchen, in dem man möglichst effizient „Früchte“ tragen kann.

Ein Mensch, der sich entschließt, „Früchte“ für andere zu tragen, trägt auch Verantwortung. Verantwortung für sein Handeln, die Auswirkungen auf andere; für Versprechen, die man nicht immer einhält; für Tage, an denen der Dienst nicht angetreten werden kann. Verantwortung trägt er aber auch für sich selbst. Wer dienen will, muss sich immer wieder neu hinterfragen, die eigene Motivation ergründen und Wirkungen ausloten.

Die Kraft des Dienens

Die wahre Kraft des Dienens offenbart sich in Situationen, in denen scheinbar keine Hilfe möglich ist. Denn in Situationen, in denen auch um Hilfe nicht mehr gebeten werden kann, ist der Dienende doch Stütze, muss er doch nicht erst instruiert werden oder eine konkrete Anweisung erhalten. Da Dienen ein Prozess ist, ist der Dienende in der Lage, mit der Zeit nicht nur sich selbst durch Zurücknahme besser kennenzulernen, sondern ebenso ein Augenmerk für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu entwickeln. Er ist doch immerzu gezwungen, sein eigenes Handeln zu überdenken und so die Wirkung seines Dienstes zu erfassen. Ebenso ist er aber auch auf die Zeiten vorbereitet, in denen scheinbar keine Besserung geschieht; dennoch ist sein Handeln nicht
sinnlos, sein Dienst nicht vergebens. Gerade in Situationen, in denen Kommunikation nicht weiterzuführen scheint, ist die bloße Präsenz, die dem Dienen innewohnt, sei es vor Ort, sei es in Gedanken, eine Stütze und ein Antrieb.

Ein Mensch, der dient, steht nicht losgelöst von der Gesellschaft, unfähig zu interagieren, sondern ist heute eben genauso Teil dieser Gesellschaft. Er kommt den Menschen näher und nimmt sich selbst zurück. Und so lernt er mit der Zeit auch die anderen stärker wahrzunehmen, lernt nicht nur nebenbei mit Menschen zu leben, sondern ein Mensch, der dient, lernt mitten unter den Menschen zu leben, nimmt sich selbst zurück und löst damit auch potentiell bestehende Klassenunterschiede auf.

Jesu Dienstanweisung

Die Sollregel Jesu, „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20, 28) gründet in dem Liebesgebot Jesu „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39 parr.).

Das Liebesgebot Jesu aber ist kein Regelwerk, also keine Aneinanderreihung von Einzelgeboten, sondern verlangt immer wieder neu auf sich und auf sein Gegenüber zu schauen. Der Dienst entsteht im Geist dieses Liebesgebotes Jesu. Die annehmende Weise, auf den Nächsten zu schauen („liebe deinen Nächsten“), entfaltet die Autonomie des Dienens. Die annehmende Weise, auf sich selbst zu schauen („…wie dich selbst“), begründet die Selbstreflexion des Dienens.

Der Dienst ist dementsprechend nicht identisch mit den Taten der Nächstenliebe, sondern der Dienst impliziert die Nächstenliebe und zählt keinen Erfolg, auch nicht an „guten“ Taten.

Dienst, eine Sollhaltung

Der Dienst ist nicht primär eine Tätigkeit, zu der man sich immer mal wieder aufrafft, oder sie punktuell auch mit Begeisterung tut, sondern eine Haltung. Ich soll dienen, so Jesu Worte! Das bedeutet, die eigene Haltung auf die Person des anderen hin immer wieder neu als dienende zu entfalten und als die eigene, von mir selbst gewollte auch in ihrer jeweiligen Veränderung mit meinem eigenen Leben zu füllen.

Das ist die radikale Erwartung Jesu: das eigene Leben im Dienst für den anderen, als ein sich erfüllendes Leben schon anzunehmen, noch bevor ich es dann selbst im Dienen entfalte. Ich-Sein auf den anderen hin, aber nicht als ein Ausnahmezustand in Nächstenliebe, sondern als kontinuierlicher Dienst.

Selbstverständlich spielt auch das Vermögen des Dienenden eine Rolle, seine Einschätzung der sich wandelnden Situation, die eigenen Kräfte, die Reflexion bisherigen Geschehens sowie Gesundheit und Wohlbefinden. Aber keine Situation, welche auch immer, kann ausreichender Grund dafür sein, das der Dienenden sich selbst vom Dienst entbindet.

Autonomer Dienst

Der autonome Dienst orientiert sich primär an dem Dasein des Anderen. Dieses Dasein erschließt sich in der Selbstmitteilung dessen, der da ist, also meines Gegenübers, und der Wahrnehmungsfähigkeit, mit der ich meinem Gegenüber begegne. Es geht bei dieser Haltung also nicht um die Entscheidung sich generell verhalten zu wollen, sondern es geht um ein dienendes
Sich-verhalten-sollen, das der Notwendigkeit des Menschen zu atmen gleichkommt. Solch ein Dienst unterliegt keinem Regelwerk, das von außerhalb durch Gesetze, Vorschriften, Wohlwollen oder Erfahrung gesteuert wird.

Autonomer Dienst wurzelt in der Unverfügbarkeit des Gegenübers, dem einfachen Dasein des anderen Menschen. Der autonome Dienst ist unabhängig von dem persönlichen Horizont bisheriger Wahrnehmung und Deutung dessen, der dient, sonst wäre der Dienst ja gebunden an bekannte und gewöhnliche Muster eigenen Verhaltens und somit nicht mehr autonom. Nochmals: Die Autonomie des Dienens wurzelt in der Gegenwart meines Gegenübers, ohne Abstriche.

Konkret geht es hier um die Erkenntnis dessen, was der anderen Person (kontinuierlich) dient, nicht was ihm punktuell helfen mag. Der Dienst erfüllt sich hier also nicht in einer Hilfestellung, da der Dienst kein Vorher und Nachher kennt, sondern beständig vorhanden ist. Allerdings ist sein Vorhandensein nicht zu verwechseln mit einem Rund-um-die-Uhr-Service.

Dienst ist immer ohne eigene Vorteilsnahme zu verstehen, selbst ohne die, ein guter Mensch zu sein.

In der Autonomie des Dienstes liegt auch seine Kontinuität, seine zeitliche Unabhängigkeit, da sie sich orientiert am prozesshaften Werden, also am andauernden Werden und sich so auch Verändern der anderen Person. Der autonome Dienst hat „alles und nichts“ mit der Person des Dienenden zu tun. Ich bin der, der handelt, kann aber nicht mehr bieten als mich selbst. Autonomie
des Dienstes bezieht sich aber auf die Uneingeschränktheit des Anderen, und ist deshalb unabhängig vom Dienenden selbst.

Autonomer Dienst ist zu unterscheiden. Der Unterschied zum „normalen“ Dienst liegt darin, dass der Dienende schon entschieden ist, und sich nicht wahlweise immer mal wieder entscheiden wird. Die Schwierigkeit des Dienens entfaltet sich in voller Größe, wenn der Dienende selbst über Umfeld und Umfang des Dienens entscheiden muss, wenn also der Dienst an der Grenze zur Hilfe steht.

Wer dient ist unter Menschen, nicht bei, nicht mit, sondern mitten unter ihnen. Dieser Haltung zum Dienst bedeutet existentiell die Größe zu haben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Abstand von einem so verstandenen Dienen ist nur in der Einsamkeit zu erlangen, der Abwesenheit eines menschlichen Gegenübers. In dieser Abwesenheit eines Gegenübers ist ein ganz bei Gott Sein möglich.

„Man muss es doch versuchen, oder?“

Wie sich der zum Dienst entschiedene Mensch in dem Prozess des Dienens selbstbestimmt und eigenverantwortlich und somit sich immer wieder neu erfinden muss, so ist vielleicht nun auch die Zeit, in der der Begriff des Dienens von einer kommenden Generation wieder verändert werden kann, um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein.

Der oben erwähnte Streifenpolizist Gus aus Fargo ist überfordert von dem Übel in der Welt und spricht mit einem Rabbiner. Ihr Gespräch endet so: dass nur ein Verrückter glauben könne, die Probleme der Welt zu lösen. Daraufhin erwidert der Streifenpolizist Gus: „Ja, aber man muss es doch versuchen, oder?“

Dazu Papst Franziskus in seiner Ansprache auf dem Petersplatz am Palmsonntag 2016:

„Die Art und Weise des göttlichen Handelns mag uns so fern vorkommen, während wir uns schwer tun, wenigstens ein bisschen von uns selbst aufzugeben. Er hat für uns auf sich verzichtet; was kostet es uns dagegen, für ihn und für die anderen auf etwas zu verzichten! Aber wenn wir dem Meister folgen wollen, genügt es nicht nur sich zu freuen, weil er kommt, um uns zu erlösen, sondern wir sind auch aufgerufen, seinen Weg zu wählen: den Weg des Dienstes, der Hingabe (…).“[7]

Anmerkungen:
1 http://www.rp-online.de/nrw/staedte/neuss/jugendsprache-ey-du-opfer-aid-1.2780504. Stand 09.03.2016.
2 Stefan Voß: Du Opfer… (PDF; 92 kB). Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 12. 2003.
3 Sprachkritik: „Gutmensch“ ist Unwort des Jahres. In: Spiegel Online. Stand vom 12. 01.2016.
4 Vergleichbare Stellen gibt es bei: Mt 23,11; Mk 9,35; 10,43; Lk 22,26.
5 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/dasbibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/dienen-diener-nt/ch/5556d3320a2fca418333d134ea730ac3/ (Stand 2016-03-02).
6 Siehe: https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/dienen-diener-nt/ch/5556d3320a2fca-418333d134ea730ac3/ (Stand 2016-02-18).
7  http://de.radiovaticana.va/news/2016/03/20/die_palmsonntagspredigt_des_papstes_im_wortlaut/1216759 (Stand 20.03.2016, 13h).

Erschienen in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück. J.P. Bachem Verlag GmbH. Mai 05/2016

 

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