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Identitätsfindung aktuell

Die junge Clara Fey

Vom Vorbild

Jeder Mensch der gelebt hat ist ein (abgeschlossenes) „Vorbild“, so wie jeder noch lebende Mensch ebenso ein (unabgeschlossenes) „Vorbild“ ist. Subjektiv kann behauptet werden, das nicht jeder Mensch ein Vorbild (gewesen) sei. Objektiv geht das allerdings nicht, da jeder Mensch „vor“ einem selbst ein „Vor – einem – selbst – Bild – des – Lebens“ ist ein Abbild gelebten Lebens, und somit gedeutete Vergangenheit. Schauen wir wissenschaftlich ordnend auf dieses Phänomen zurück, ergeben Lebensbilder, die in einem Zeitabschnitt hohe  vergleichbare Merkmale aufgewiesen haben, ein (zeitlich umrissenes) Zeitalter. Die „Vorbilder Mensch“ helfen uns nicht nur die Vergangenheit (deutend) zu ordnen, sondern ermöglichen uns im Rückgriff auf diese, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Dem voraus geht unsererseits einen Beurteilung dieser Lebensbilder. Unabhängig von unserer (moralischen) Beurteilung wohnt allerdings jedem Lebensbild das gleiche Prinzip von Ursache und Wirkung inne. So verhält es sich auch in im „Fall“ der Clara Fey, deren Lebensbild nur aus ihrem Zeitalter heraus zu verstehen ist.

Aachen, Wegbereiter des Zeitalters der Industrialisierung

Schon im ausgehenden Mittelalter sind für den Aachener Raum nutzbare Erzlager, Steinkohle, Holzbestände und Wasserkraft belegt. Diese Ressourcen waren auch ein wichtiger Pfeiler für die wirtschaftliche und technische Entwicklung im 19. Jh. Für das Zeitalter der  Industrialisierung nahm die Stadt Aachen und ihr heute als euregional bezeichnetes Umfeld eine Vorreiterrolle ein. „Anders als etwa die (…) Industrieregionen des Ruhrgebiets oder Sachsens kam in Aachen ein weiterer Faktor hinzu, der die wirtschaftliche und technologische Entwicklung dieser Region am Beginn der Industrialisierung nachhaltig prägen sollte: der umfangreiche Transfer von Kapital und technischem Know-how durch belgische Unternehmer aus dem wallonischen Grenzgebiet. Die belgische Grenzregion fungierte dabei gleichsam als Keimzelle für den Transfer englischer und belgischer Technologie, der eine weitreichende technisch-wirtschaftliche Umgestaltung des traditionsreichen Aachener Gewerbes zur Folge hatte.“ Die „Frühindustrialisierung“ markierten weiter die ansteigende Mechanisierung der Produktion und deren Zentralisierung in Fabriken. 1834 zählte man in Aachen ca. 70 von  Dampfkraft betriebene Maschinen, 1849 waren es schon mehr als 200. Die Lockerung der Zollgesetzte von 1818, die Aufhebung der Kontinentalsperre, die eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge hatte, sowie die Aufhebung des Zunftzwangs waren weitere Faktoren der  Veränderung. In Summe führten diese Entwicklungen zu einem verheerenden  Konkurrenzkampf, einhergehend mit Absatzeinbrüchen, die durch die Reaktionen der Arbeitgeber zur Verelendung der Arbeitnehmer führen sollten, u.a. bedingt durch  Lohnkostensenkung und Entlassungen. Hinzu kommen ökonomische und gesellschaftliche Umbrüche, sowie Veränderungen in der Kommunikation der Arbeiter untereinander, in der Qualität ihrer Arbeit, sowie Veränderungen in der Städteplanung und in der politischen Gemengelage. Um das Jahr 1830 war über die Hälfte der Aachener Bevölkerung abhängig von der industriellen Produktion in Fabriken bzw. der industrialisierten Heimproduktion. In  diesen Produktionsprozess waren auch Kinder eingespannt. Im Jahre 1805 z.B. wurden in der Fabrik der Familie Jecker von den 250 Arbeitskräften 225 Kinder gezählt zwischen vier und zwölf Jahren.“ Diese Kinder arbeiteten oft über 12 Stunden pro Tag für einen Hungerlohn.

Claras „Sehschule“

Am 11. April 1815 wurde Clara Fey als viertes Kind von Katharina Schweling und ihrem Ehemann dem Tuchfabrikant Peter Louis Joseph Fey in Aachen geboren. Die Mutter lehrte ihre Tochter schon in jungen Jahren auf das zu schauen, was um sie herum passierte. Besondere Aufmerksamkeit fanden bei den Feys und in ihrem Freundeskreis die  gesellschaftlichen Veränderungen aufgrund der Industrialisierung. An der Hand ihrer sozial sehr engagierten Mutter sah Clara nicht nur die Welt der Wohlhabenden, sondern auch die Armenhäuser und Armenviertel ihrer Stadt. Die Kindheit Claras war also auch eine  „Sehschule“, der Realitäten um sie herum, aus der heraus ihre soziale Kompetenz erwachsen konnte.
Diese wachsende soziale Kompetenz hinterließ in Clara eine Unruhe, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten sollte, und die sie antrieb. So motivierten das Handeln Claras zwei „Weisen ihres Hinschauens“: zum einen die „nackte Realität“ immer wieder neu in den Blick zu nehmen, und zum anderen notlindernde Veränderungen herbeiführen zu wollen. Doch Claras Motivation fußte nicht einzig in der Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeiten. Ihr Handeln wurde auch geleitet von ihrem christlichen Glauben, den sie in ihrer Familie authentisch erlebte und der sie in der katholischen Kirche Aachens zu Hause sein ließ. Clara war 15 Jahre alt, als in Aachen am Montag, den 30. August 1830 Unruhen ausbrachen. Der konkrete Anlass: Am Zahltag hatte ein Tuchfabrikant ein Zehntel des Wochenlohns eines Arbeiters einbehalten wegen eines in der Fabrikation beschädigten Tuches. Dies war der Auslöser für die Unruhen, aber nicht der einzige Grund, da die Arbeiterschaft schon länger über zu niedrige Löhne klagte bzw. die Maschinen verantwortlich machte für den Verlust von Arbeitsplätzen. Auch an Clara Fey wird dieses Ereignis nicht spurlos vorbeigegangen sein, zumal aktuelle Ereignisse, die mit der Tuchproduktion zusammenhingen, bei den Feys mit Sicherheit Tagesthemen waren.

Claras Identitätsfindung

Was im Kopf der heranwachsenden Clara konkret vorgegangen sein mag, ist auch nicht aus ihrer späteren Korrespondenz im Einzelnen herauszulesen. Jedoch ersichtlich ist, dass die junge Clara diese existentiellen Themen umtrieben:

  • Pauperisierung und soziale Gerechtigkeit (Clara hat weniger die Ursachen der Verelendung der Kinder im Blick gehabt als mehr deren Wirkung.)
  • Handeln aus dem Glauben (Handeln aus einer Überzeugung)
  • Frage nach eine zukünftig eigenverantworteten Lebensform
  • Bewusstwerdung der eigenen Identität und Authentizität.

Vorbild Luise Hensel

Aber nicht nur ihr Elternhaus hat Clara sensibilisiert für die Suche nach einem Erfüllung versprechenden Lebensentwurf, sondern auch Luise Hensel (1798 – 1876), ihre Lehrerin an der Sankt Leonhard Schule. Der Text folgenden bekannten Liedes floss 1817 aus der Feder von Luise Hensel:

„Müde bin ich geh’ zur Ruh’;
Schließe beide Äuglein zu;
Vater, lass die Augen dein
Über meinem Bette sein!”

Luise Hensel begegneten auch die beiden späteren Ordensgründerinnen Franziska Schervier (1819–1876) und Pauline von Mallinckrodt (1817–1881). Luise Hensel hat mit dazu beigetragen, dass Clara ihren persönlichen Glauben, ihre soziale Verantwortung und Kompetenz sowie die Entfaltung der eigenen Identität in einer entsprechenden Lebensform zusammen denken konnte, um diese dann auch Schritt für Schritt eigenständig zu leben. Gerade die Frage nach der Lebensform war für Clara eine Grundlage ihrer Identitätsfindung: Clara hat familiäres Glück in der eigenen Kindheit erfahren, sodass die Perspektive, selbst eine Familie zu gründen, für Sie sicherlich ein denkbares Modell gewesen wäre. Die klösterliche Lebensform war Clara auch vertraut, nicht zuletzt durch die alltägliche Präsenz ganz verschiedener Klostergemeinschaften in Aachen, die sie auch konkret als Lebensmodell in Betracht gezogen hatte. Mit Luise Hensel erlebte sie eine Konvertiten, die engagiert als Katholikin lebte und für sich selbst die zölibatäre Lebensform „in der Welt“ wählte, also ohne einer klösterlichen Gemeinschaft beizutreten.

Clara und die „bessere“ Gesellschaft

Die klösterliche Lebensform war am Beginn des 19.Jh. nicht nur sehr präsent in den größeren Städten, sondern aus sozialen und mitunter auch finanziellen Gründen für junge Menschen attraktiv. Die „tätigen“ Ordensgemeinschaften ermöglichten Frauen ihr soziales Engagement in besonderer Weise zu entfalten. „Gerade diese Symbiose von tätigem und religiösem gemeinschaftlichem Leben faszinierte im 19. Jahrhundert zahlreiche Katholikinnen.“ Ende des 18. Jh. boomte nicht nur in Deutschland die Entstehung weltlich tätiger Frauenkongregationen im Gegensatz zu den monastischen Frauen- und Männerorden. „Für viele katholische Gläubige wurden die Schwestern zu den wichtigsten Begleiterinnen im sozialen Prozess des Wandels von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft.“  Die Bedeutung der Religion für Frauen in dieser Zeit ist auch zu verstehen als „Medium“ der Interessenartikulation und Realisierung subjektiver Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft. Die bessere Gesellschaft manifestierte sich in dieser Zeit vorwiegend in sozialen Verbesserungen. Eine Möglichkeit für Frauen, an einer Verbesserung mitzuwirken, war die Ordensgemeinschaft, der Verbund tätiger Schwestern. Hier ist interessant, dass drei junge Frauen, die sich untereinander gut kannten, fast zeitgleich drei verschiedene Ordensgemeinschaften geründet haben, motiviert auch durch die unterschiedlichen sozialen Herausforderungen:

  • Franziska Schervier (1819–1876) die „Franziskanerinnen zu Aachen“ als „Hilfe der Armen“;
  • Pauline von Mallinckrodt (1817–1881) die „Schwestern der christlichen Liebe“ (Arbeiterinnen des Herrn) als „Hilfe für die Blinden“;
  • Clara Fey (1815–1894) die „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ als „Hilfe für verwahrloste Kinder“.

Hier ging es nicht um die Verwirklichung der Frau als solcher (spätere Frauenbewegung), sondern um die Verwirklichung eines notwendigen und selbst gewählten sozialen Engagements. Damit mündete bei den Frauen ihre Selbstverwirklichung in das „soziale Engagement“ (Apostolat) und ging einher mit ihrem persönlichen Gottesbezug. Auch für Clara ging es bei ihrer persönlichen Suche nach einem erfüllten Leben nicht um die Suche nach dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung, sondern um Identitätsfindung auf dem Hintergrund der sozialen Missstände in ihrer Stadt verbunden mit ihrer Verantwortung aus dem Glauben. Somit ging es den drei Gründerpersönlichkeiten in ihrem sozialen Engagement (Apostolat) nicht um die Anerkennung in der Welt, sondern handlungsleitend war für sie ihre transzendentale Orientierung.

Apostolat und Ökonomie in den Anfängen der Gemeinschaft (PIJ)

Am 14. September 1848 bezog die Gemeinschaft ihr erstes Mutterhaus in Aachen. Am 18. Oktober 1848 erfolgte die Einkleidung der ersten Schwestern. Mit diesem äußeren Zeichen und dem Ablegen der ersten Profess bekannten sich die Schwestern zu ihrer inneren Zugehörigkeit zu Gott und ihrem Apostolat als Gemeinschaft mit klösterlicher Lebensform. Apostolat Anfangs versuchten die Schwestern die schutzlosen und verwahrlosten Kinder noch in Pflegefamilien unterzubringen. Dieses Bemühen allerdings stieß schon früh an Grenzen, und es kristallisierte sich immer mehr die Beheimatung der Kinder in „Erziehungsanstalten“ heraus, wie damals ein solcher „Familienersatz“ genannt wurde. In solchen „Anstalten“ war die leibliche Versorgung der Kinder gewährleistet. Darüber hinaus konnte so auch für ihr geistiges Wohl, für Bildung gesorgt werden. Clara und ihre ersten Begleiterinnen begannen aber immer mehr ihre persönliche Zukunft mit dem Schicksal besonders der in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen zu verbinden. Sie wollten mit diesen Kindern nicht mehr nur im Vorübergehen zu tun haben, sondern sich biografisch an jedes dieser Kinder binden. Dieser Bindungswille, aus christlicher Überzeugung gereift, ist der Kern dessen, was später Claras Apostolat genannt wurde. Dies ist auch das Apostolat derer, die sich in der von Clara (mit) gegründeten Gemeinschaft der „Schwestern vom armen Kinde Jesus“ damals organisierten und bis heute auf drei Kontinenten weiterhin organisieren. Claras pädagogisches Konzept: Kinder als das höchste Gut einer Gesellschaft zu betrachten, Kindern das Recht zuzusprechen, sich entfalten zu können, Kindern ihr Kind-Sein nicht zu nehmen. Claras eigene Rede: „… Gute Aufsicht halten ist notwendig, doch muss es eine solche sein, die die Kinder nicht beengt und bedrängt, sondern man muss gerne sehen, dass die Kinder spielen, ja auch mal lärmen…“

Ökonomie

Mit Gründung der Gemeinschaft war auch die Frage ihrer Finanzierung, die Ökonomie Dauerthema. Schon in der Gründungsphase entstieg aus einem konkreten Mangel eine Einnahmequelle. Für jede Form des Gottesdienstes bedarf es liturgischer Gewänder, sogenannter „Paramente“. Anfänglich liehen sich die Schwestern die benötigten Paramente in Aachener Gemeinden aus. Allerdings wuchs aus dem Mangel, ästhetisch wenig ansprechende Gewänder ausgeliehen zu bekommen, die Idee, Gewänder und andere in der Liturgie verwendete Textilien ästhetisch wertvoll selbst zu produzieren. Im Oktober 1848 fertigten die Schwestern hier in Aachen ihr erstes Messgewand. Das hatte Folgen! 1855 entstanden die ersten Werkstattniederlassungen über Aachen hinaus in Köln und Landstuhl, und weiter ging es dann u. a. auch in Luxemburg, Österreich und England. Von Frauenhand „meisterlich“ gearbeitet entstanden bis 1865 allein in Aachen 400 Messgewänder und 130 vollständige Ornate. Aus dieser ursprünglich kleinen Eigenbedarfsdeckung entwickelten sich Werkstätten für die Herstellung von Paramenten, deren Kundenstamm weit über die Landesgrenzen hinaus wuchs. Soweit, so gut.

Junge Menschen haben ein Recht auf die junge Clara

Die Fragen und Entwicklungen, Wahrnehmungen, Begebenheiten und Begegnungen auf dem Weg der Identitätsfindung einer Clara Fey sind nicht ihrem „Zeitalter“ geschuldet. Clara ist in Sachen Identitätsfindung genau so eine „durchschnittliche“ junge Persönlichkeit wie jeder andere junge Menschen heute auch, der auf der Suche nach seiner Identität ist. Sicherlich, das Zeitalter ist ein anderes, das Bedürfnis nach Authentizität aber nicht! Clara ist ein Vorbild, ein „Vor – einem – selbst – Bild – des – Lebens“, auf das junge Menschen auch heute ein Recht haben. Clara steht für das Bedürfnis junger Menschen, ihrem Wollen zur eigenen Identitätsfindung zu trauen, und das als ihren „einzigartigen“ Weg verstehen zu dürfen. Aber dazu gehören Möglichkeiten, die der Ermöglichung auch durch andere bedürfen, wie diese auch Clara hatte:

  • Wahrnehmung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und deren Bedingungen („Sehschule“ im eigenen Umfeld)
  • Stärkung der sozialen Kompetenz • Begegnung mit dem Religiösen und Standortbestimmung
  • Begegnen/Erleben von „un – gewöhnlichen“ Lebensentwürfen (Biographie)
  • Eröffnung von eigenen „Erprobungsfeldern“ (Praktika, Auslandsjahr, soziales Jahr etc.)
  • Finanzielle Perspektive.

Die „Vorbilder Mensch“ helfen uns nicht nur die Vergangenheit (deutend) zu ordnen, sondern ermöglichen uns im Rückgriff auf diese, die Zukunft in die Hand zu nehmen. Darauf haben junge Menschen ein Recht, ein Recht auf Vorbilder und deren Biographien!

Erschienen in:  Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 12/2014, S. 377 ff
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