www.christoph-stender.de

Mit dem Knie denken?

Über eine besondere Formulierung im dritten Kapitel des Lukasevangeliums, in dem von der Taufe Jesu berichtet wird, lohnt es sich zu stolpern. Dort steht im 15. Vers: „Das Volk war voll Erwartung und alle überlegten im Herzen.“ In der Lutherübersetzung von 1912 sind die letzten vier Worte des Verses angeschärft: „Alle dachten im Herzen.“ Grund für diese Formulierung war die Ungewissheit der Menschen damals, ob Johannes der Täufer nicht vielleicht doch der erwartete Christus sei. Johannes klärt die Ungewissheit mit wenigen eindeutigen Worten auf.

Aber wie geht das, im Herzen zu überlegen, zu denken? Gängige Erkenntnis ist doch, was im Kopf, genauer im Gehirn gedacht wird. Mit diesem Körperteil ist unabhängig vom Kulturkreis das Denken weltweit fest verbunden. Denken ist die Fähigkeit der Erkenntnis und des Beurteilens, zu der auch die Überlegung gehört. Überlegen bedeutet wiederum, einen Sachverhalt durchdringen zu wollen, ihn für sich zu erschließen und so zu verstehen.

Diese „Kopfeinsicht“ irritierte der aus dem Rheinland stammende Künstler Joseph Beuys (1921 bis 1986) mit der Aussage: „Ich denke sowieso mit dem Knie.“ Er hatte damit wohl feststellen wollen, dass ein lineares, also ein logisches, ein Denken nur mit dem Gehirn nicht ausreicht, um auch aus dem Blickwinkel des Künstlers die Realität zu erschließen. Mit der Gelenkigkeit des Knies könne der Künstler um die Ecke denken, so seine Vorstellung. Unabhängig davon, ob der Gedankengang von Beuys anspricht oder nicht, so macht er doch eines deutlich – wie die drei Worte aus dem Evangelium: Denken ist nicht nur eine Kopfsache. Auch andere Körperteile können ergänzend helfen, die Realität zu erschließen.

Was ist jetzt aber konkret der Zugewinn, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen zu denken? Schauen wir nochmals in das Evangelium: „In jener Zeit war das Volk voll Erwartung und alle überlegten im Herzen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Christus sei.“ An der äußerlichen Erscheinung des Johannes konnte nicht festgemacht werden, wer er von innen her war. Die Äußerlichkeit lässt auch heute keine Rückschlüsse zu auf das Innere einer Person, auf das Sein des Menschen uns gegenüber.

Mit dem Verstand zu denken, ist „nur“ eine Draufsicht. Mit dem Herzen zu denken, ist Einsicht. Das Ergebnis dessen, was die Menschen damals mit dem Herzen gedacht haben, ist verborgen, da Johannes selber sich erklärt hat.

In unserer aktuellen Kultur des Urteilens ist es eine Bereicherung, über den anderen Menschen auch mit dem Herzen zu denken. Denken mit einer Akzeptanz, die von Herzen kommt. Denken mit einer warmherzigen Off enheit. Denken mit der Verlässlichkeit des Herzschlags. Denken von Herz zu Herz.

Quelle: Katholische SonntagsZeitung für Deutschland 8./9. Januar 2022 / Nr. 1
Dieser Beitrag wurde in Aufsätze + Artikel, Zum Evangelium veröffentlicht. Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Kommentieren oder einen Trackback hinterlassen: Trackback-URL.

Einen Kommentar hinterlassen

Ihre E-Mail wird niemals veröffentlicht oder weitergegeben. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie können diese HTML-Tags und -Attribute verwenden <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

*
*

© Christoph Stender | Webdesign: XIQIT GmbH
Impressum

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen