Faxbox-Predigt vom 15.9.1996
Diese Beschimpfung wurde unserem Bundespräsidenten Roman Herzog am vergangenen Sonntag ins Gesicht geschleudert. So wie die Medien berichten, sprach der Bundespräsident am “Tag der Heimat” vor den Mitgliedern des Bundes der Vertriebenen (BDV) und unterstrich deutlich die Haltung der Bundesrepublik, zu ihren heutigen Grenzen als vereintes Deutschland zu stehen. Für ihn ist, so sagte er in seiner Ansprache, der gemeinsame Weg der Völker in die Zukunft das fruchtbare Miteinander und nicht das Aufrechnen von Taten der Gewalt und Gegengewalt aus der Vergangenheit. Vaterlandsverräter! Gott sei Dank war es nur eine einzige Stimme, die den Bundespräsidenten verunglimpfte und mit ihm das Land, das Roman Herzog als Bundespräsident repräsentiert, die Bundesrepublik Deutschland.
Dass ein solcher Zwischenfall Empörung hervorruft und die Empörung auch in der Presse zum Ausdruck kommt, ist selbstverständlich und richtig. Nur wäre es ein Verlust, wenn in der Öffentlichkeit dieser Skandal mehr in dem Bewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes haften bliebe, als das, was Herzog in seiner Ansprache in unaufdringlichen und klaren Worten bekannte: “Fruchtbar wird unsere Zukunft nicht sein, wenn sie Taten der Gewalt und Gegengewalt aufrechnet!” Hier geht es nicht darum, die Taten der Gewalt und der Gegengewalt schön zu färben, zu leugnen oder zu vergessen. Es geht auch nicht darum, ihre Verursacher und Verursacherinnen und die Strukturen ihrer Verursachung tot zu schweigen. Sondern hier geht es darum, eine traurige Erkenntnis anzunehmen, dass Gewalt gegen ganze Völker oder gegen einzelne Menschen immer verabscheuungswürdig ist, sie aber trotzdem immer auch Veränderung hinterlässt. Gewalt verändert Menschen, die Geschichte von Nationen, die Grenzen eines Landes, die Biographien von Familien, die Poesie der Dichterinnen und Dichter, die eigenen Träume in der Nacht. Diese und alle anderen Veränderungen, die Gewalt hinterlässt, gehen einher mit Schmerzen, Trauer und Wut.
Doch die Antwort auf Gewalt und die ihr folgenden Veränderungen ist nicht neue Gewalt. Die existentiellste und lebensbejahendste Antwort lautet: “Ich vergebe Dir, weil Du mich darum bittest!”
Im heutigen Evangelium fragt Petrus: “Herr, wie oft muss ich dem vergeben, der sich gegen mich versündigt?”
Jesus antwortet auf diese Frage: “Nicht sieben Mal sollst Du vergeben, also nicht ein paar Mal, sondern 77 Mal sollst Du vergeben, also immer wieder!”
Das, was Jesus hier fordert, sprengt die Grenzen des menschlich Möglichen. Das ist eine Überforderung, immer neu dem zu verzeihen, der gegen mich sündigt, der mein Leben selbstsüchtig einengt, der mir ungerechtfertigt weh tut, der meine Existenz bedroht, der meine Liebe zerstört, der mein Leben misshandelt, der durch Rufmord über mich triumphiert, der mir nimmt, was mein Leben lebendig macht …
Diese klare Aufforderung, immer wieder zu verzeihen, so wie Jesus es uns sagt, führt uns an unsere Grenzen und überfordert uns all zu oft. Diese Forderung aber, wie Jesus sie uns sagt, ist eine der größten Provokationen Gottes an uns Menschen schlechthin. Jesus ruft uns über unsere Grenzen hinaus.
Er fordert das fast Unmögliche. Eben den Weg, auf die anderen Menschen zuzugehen, die schuldig an uns geworden sind, genau so wie Gott seinen Weg auf jeden einzelnen von uns zugeht, wie er auf mich zugeht, mich bei meinem Namen nennt, obwohl er weiß, wie unfertig ich bin und fehlerhaft. Warum? Warum solch ein Weg? Warum diese Forderung, die so oft eine Überforderung ist? Gott fordert uns in seinem Sohn Jesus Christus auf, auf der Seite des Lebens zu stehen, so wie er. Das heißt, dem Menschen zu verzeihen, der an seinem eigenen Leben leidet, weil er spürt und einsieht, dass er mein Leben verletzt hat und in der Bitte um Vergebung und Entschuldigung mich um sein Leben bittet, darum, selber wieder lebendig sein zu können!
Nochmals diese Frage: Warum? Warum solch ein Weg? Warum diese Forderung, die für uns oft eine Überforderung ist?: Weil Gott, was das Leben angeht, keine Abstriche macht, so seine eindeutige Antwort. Diese Forderung kann nur der stellen, der das Leben über alles liebt, unser Gott des Lebens.
Diese Ansprache erschien als Faxbox-Predigt des Bergmoser + Höller Verlags.