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Der heilige Christophorus: Ein Antiheld

Dieser Beitrag wurde von Michael Lejeune verfasst und im Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück vom Juli 2015 veröffentlicht.

 

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© Michael Lejeune

„Im ,grossen Christoph‘, wie das Volk ihn nennt, ist das Volk selbst personificirt, die rohe, aber gutartige Masse, die für Bekehrung empfänglich ist, und der dann auch eine grosse Gewalt inwohnt zum Schutz der einmal von ihr anerkannten Kirche.“ So schreibt Wolfgang Menzel in seinem ersten Band der Christlichen Symbolik im Jahre 1854. Dieser direkte Bezug zum Volk ist heute noch aufzufinden, denn kaum ein eingesessener Autofahrer wird diesem Christophorus, sei es in Form einer Plakette oder eines Bildnisses, nicht schon einmal begegnet sein – obwohl 1925 Franziska von Rom als Patronin der Autofahrer diese Vormachtstellung brechen sollte. 1962 wurde der Heilige Christophorus sogar aus der Liste der kanonischen Heiligen gestrichen, aber 2001 wieder ins Martyrologium Romanum aufgenommen. Im deutschen Diözesankalender ist sein Gedenktag am 25. Juli allerdings durchgängig enthalten. Die in West- und Ostkirche bezeugte Ikonographie zeigt, wie sehr der Heilige als Christusträger immer noch zum kollektiven Bewusstsein gehört.

Christusträger Reprobus

Die Christusträgerlegende ist der bekanntere Abschnitt der Biografie des Christophorus, der nach seiner Taufe als Prediger durchs Land zog und schließlich den Märtyrertod erlitt. Als literarische Grundlage der Christusträgerlegende gilt die „Legenda aurea“ des Dominikaners und späteren Bischofs von Genua, Jacobus de Voragine (1229-1298). Dieses Legendar, in Latein verfasst, war Grundlage für volkssprachliche Sammlungen von Heiligengeschichten, wie dem „Passional“ oder dem Prosalegendar „Der Heiligen Leben“, deren weite Verbreitung dazu beitrug, dass die nicht in Latein unterrichtete Bevölkerung direkten Zugang zu den populären, meist kurzen, illustren Lebensbeschreibungen erhielt. So dienten diese Legendensammlungen, in lebhafter Sprache mit  volkstümlichen Elementen versehen, als eine Art christlichen Wegweisers für den Alltag. Die „Legenda aurea“ erzählt im ersten Teil der Lebensbeschreibung, wie sich die Wandlung eines Riesen namens Reprobus zum heiligen Christophorus vollzogen hat. Eine Unvoreingenommenheit macht der Name Reprobus (lat.: ausgeschlossen, verworfen) von vornerein unmöglich. Dieser 12 Ellen große Riesen „furchtbaren“ Anblicks hat es als Soldat vor nicht wenige weltliche Herrscher gebracht. Als er so einst vor seinem König, dem König der Chananaeer stand, kam ihm in den Sinn, den größten Herrscher in dieser Welt zu suchen und bei diesem zu bleiben. So beginnt seine Suche.

I.  DIE LEGENDE

1. Der König

Reprobus findet alsbald einen König, der solch einen Ruf genießt. Dieser nimmt ihn mit Freuden auf und lässt ihn bei sich wohnen. Die Geschichte deutet nicht an, wie Reprobus die Zeit beim König verbringt, sondern springt direkt zum Bruch: das Lied eines Spielmanns, der mehrmals den Namen des Teufels ausspricht; der König, der, als Christ, sich daraufhin mit dem Kreuz bezeichnet; und die Reaktion des Reprobus, der so verwundert über dieses Zeichen ist, dass er, als der König ihm die Erklärung verweigert, droht, diesen zu verlassen, sollte er die Bedeutung des Zeichen nicht erfahren. Erst nach dieser Drohung vertraut ihm der König seine Furcht vor dem Teufel veran und erklärt, dass er durch das Zeichen des Kreuzes den Teufel von sich abhalten wolle. Nun argumentiert Reprobus: Wenn der König sich so heftig fürchte, dass der Teufel ihm schaden könne, müsse dieser Teufel folglich größer und mächtiger sein. So sei schließlich er, Reprobus, in seiner Hoffnung, den größten und mächtigsten Herrscher gefunden zu haben, betrogen worden. Er wünsche dem König Lebewohl, da er selbst sich auf den Weg mache, den Teufel zu suchen und diesem, als seinem Herrn zu dienen. Bereits hier zeigt sich Reprobus als uneinschätzbares, reagierendes Element, das hin- und hergetrieben wird auf einer Suche, deren wahres Ziel verdeckt liegt. Er gibt vor, den größten Herrscher zu suchen und erkennt ihm doch die eigenangs anerkannte Macht im Moment der Furcht ab. Ihn wundert ein Zeichen sosehr, dass er gewillt ist, seine Suche neu aufzunehmen. Er legitimiert sich und bricht doch Wort, um wieder auf der Suche zu sein, wurde sein Glaube, dem größten zu dienen, ja enttäuscht.

2. Der Teufel

Reprobus macht sich also auf, den Teufel zu suchen. In einer Einöde trifft er auf eine Schar Soldaten, deren einer – gleich seiner eigenen Beschreibung – von furchtbarem Anblick ist. Dieser nähert sich dem Suchenden und erkundigt sich nach dessen Ziel. „Ich suche nach dem Herrn Teufel, den ich als meinen Meister wählen will.“ Worauf dieser antwortet: „Ich bin‘s, den du suchst.“ [„Ego sum ille, quem quaeris.“] Hier hebt die Art der Formulierung die Personifizierung des Teufels wieder auf, könnte doch jeder der Soldaten vorgeben, der Gesuchte zu sein. In Bezug gesetzt zum jesuanischen Ausspruch „Ich bin‘s, der ich von mir selbst zeuge“ (Joh 8,18) zeigt sich hier die ganze Flexibilität des nicht für sich zeugenden Bösen, das nur gefunden zu werden braucht und überall zu finden ist.

Reprobus freut sich sein Ziel erreicht zu haben, gelobt seinen Dienst für ewige Zeiten und nimmt den Teufel als seinen Meister. Auch die Zeit beim Teufel wird nicht näher beschrieben, denn erst als der Teufel ein Wegekreuz erblickt und dieses durch Umwege in die Wüste vermeidet, reagiert Reprobus. Dieser wundert sich sehr darüber, dass der Teufel nicht dem geraden Pfad der Straße gefolgt ist, und stellt ihn zur Rede. Der Teufel verweigert ihm die Antwort. So greift Reprobus abermals zum Äußersten und droht, dass sich ihre Wege trennen. „Es gab einen Menschen, Christus genannt, den man ans Kreuz geschlagen hat, so dass ich, wenn ich dieses Kreuz erblicke, es fürchte und flüchten muss.“ Der Ehrlichkeit des Teufels begegnet er mit einer prompten Absage; erneut erläutert Reprobus, dass ja dieser Christus größer und mächtiger sein müsse, wenn der Teufel sein Zeichen so sehr fürchte. Und abermals muss er seinen Glauben aufgeben, den größten Herrscher dieser Welt gefunden zu haben. Er teilt dem Teufel mit, dass er ihn nun verlassen werde, um Christus zu suchen, und wünscht auch ihm ein Lebewohl. „Iam nunc valeas, quia te volo deserere et ipsum Christum inquirere.“ Auch die zweite Etappe ist gezeichnet von Elementen, die vordergründig schwer einzuordnen sind: das Gesuchte in der Form des zu Findenden; das Kreuz, das nicht wiedererkannt wird; Reprobus als Ratio in der Nachfolge des geraden Weges, dessen Irratio die von ihm nicht erwähnten Bedingungen seines ewigen Dienstes abermals zerstört und ihn in die Suche zwingt.

3. Der Einsiedler

Reprobus sucht lange Zeit – nicht wie zuerst angekündigt – Jesus in persona, sondern einen, der ihm Kunde geben kann. Er gelangt an einen Einsiedler, der ihm mit Fleiß im Glauben von Jesus berichtet und die Bedingungen für den von Reprobus ersuchten Dienst benennt: Dieser König veranlange nämlich von denen, die ihm dienen wollen, viel zu fasten und viel zu beten. Beides verweigert Reprobus jedoch: Das Fasten sei ihm keinesfalls möglich, so solle der König doch etwas anderes von ihm fordern; das Beten sei ihm nicht bekannt, und so könne er auch in diesem nicht folgen. Daraufhin fragt der Einsiedler ihn, ob er jenen Fluss kennen würde, dessen Überquerung so viele Menschen das Leben gekostet habe. Reprobus bejaht dies mit „Ich weiß“ [„Novi“]. Dieser, die Wahrheit dem anderen Abverlangende, spricht nicht aus, was er will, sondern was er weiß. Wissen über einen Fluss, der das Leid der Kriegswirren im Bild der Gruppe von Soldaten, in der Form des Todbringers, der die Flüchtlinge in der Überquerung heimsucht, versinnbildlicht. Der Einsiedler weist also Reprobus an, da er groß und stark sei, sich an den Fluss zu setzen und die Menschen hinüber zu tragen. Weiterhin sei dies Christus, dem König, genehm, und so hoffe er, dass sich dieser dem Reprobus offenbaren werde. Reprobus bestätigt, dass er dies zu tun vermag und unterwirft sich dem Dienste Jesu. Er geht zum Fluss, baut sich einen Unterschlupf und setzt fortan die Menschen mit einem großen Stab in der Hand sicher über das Ufer.

4. Die Offenbarung

Es verstreicht die Zeit ins Land, bis Reprobus, ruhend in seinem Unterschlupf, eine Kinderstimme vernimmt: „Christophore, veni foras et me ipsum traducas.“ Hier sei angemerkt, dass die Person des Reprobus durchgängig Christophorus genannt wird; doch ist die anachronistische direkte Anrede des noch nicht Getauften Hinweis auf die Selbsterfüllung eben jener Anrede: Der „Christusträger“ wird gerufen, den Christus zu tragen. Reprobus fühlt sich angesprochen, geht nach draußen, doch findet niemanden vor; so wiederholt sich der Ruf ein zweites Mal, und wieder hört Reprobus, ohne zu sehen. Erst beim dritten Ruf erblickt er ein Kind, das ihn bittet, es an das andere Ufer zu tragen. Er nimmt das Kind auf seine Schultern, greift seinen Stock und schreitet ins Wasser; doch je näher er dem anderen Ufer kommt, desto höher steigen die Fluten und desto schwerer wird das Kind auf seinen Schultern. Die Last des Kindes wird so schwer, das Wasser reicht ihm so hoch, dass er sich in großer Gefahr sieht und sogar fürchtet zu ertrinken. Nur mit äußerster Kraft am anderen Ufer angelangt, setzt er das Kind ab und spricht: „Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen.“ Woraufhin das Jesuskind sich offenbart: „Wundere dich nicht, Christophorus, du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat. Ich bin nämlich dein König Christus, dem du in deinem Handeln zu dienen suchst.“ Und als notwendig erscheinenden Beweis – [„ut me verum dicere comprobes“] – gibt es ihm die Aufgabe, seinen Stock in die Erde zu stoßen, dass er des Morgens erblühe und Früchte trage. Daraufhin verschwindet das Kind vor seinen Augen, er aber kehrt zum Ufer zurück, folgt der Anweisung, und am nächsten Morgen blüht neben seiner Unterkunft ein Palmenbaum.

Hier endet die Geschichte vom Christusträger: aus Reprobus ist Christophorus geworden. Die Metamorphose hat sich vollzogen, nicht etwa durch die Taufe, sondern durch die Überführung des Kindes, dass ihn somit zum Christusträger – Christophorus – gewandelt hat.

II. SYNOPSIS

1. Wille zur Macht

Die Geschichte des Christträgers, der arm im Geiste, aber fest im Glauben seiner Bestimmung gerecht wird; der die größte Macht sucht und sie schließlich im König Christus findet, ist also auch die Geschichte des Reprobus, der auf der Suche ist und sich doch immer losreißt, der nicht die Zeichen, sondern nur die Furcht erkennt, der mit dem Beten nichts anzufangen weiß inmitten einer Handlung, die erst im letzten Moment die Transzendenz andeutet und ihn dann doch als auf die Palme als Zeichen angewiesenen „Gläubigen“ zurücklässt. Eine Vereinbarkeit beider Deutungen ist nur durch Betrachtung der Person des Reprobus möglich, und so gilt zuerst zu klären, was er sich durch seine Suche zu finden erhofft und welcher Wille hinter dieser Suche steht. Dieser Wille äußert sich in der ersten Etappe als Form des Wunsches, einen Herren zu finden, der der Größte in der Welt sei. Bei diesem will er dann verweilen. Es ist nicht der „Wille zur Macht“, sondern der Wille, der Macht nahe zu sein; der weltlichen Macht als ebenbürtiges Element der körperlichen Macht Gesellschaft zu leisten. Nach der ersten Enttäuschung sucht er nicht nur den „größten“ [„maiorem“], sondern auch den „mächtigsten“ [„potentiorem“] Herrscher (als erster Hinweis auf die Verletzbarkeit des Großen) und gelangt so zum Teufel: der Macht des Bösen. Dieser will er nun dienen, ihr nicht mehr nur ebenbürtig sein. Doch auch der Teufel enttäuscht seine Hoffnung, und so verpflichtet er sich schließlich dem Konzept der Macht; dem einen König, der, nicht ansprechbar und gefeit vor jeglicher Delegitimation seitens Reprobus, Hoffnung auf Offenbarung gewährt.

2. Reprobus als Reagierender

Aber wie bildet sich sein Wille? Welcher Art ist diese Macht, die er sucht? Als Soldat mit Macht vertraut, der ihm in vorigem Leben befehlenden als auch der eigenen in Form der Kraft, scheint er doch unfähig, diese Macht zu erkennen. Aber es ist nicht der einfache Geist, der sich abzeichnet: seinen Argumentationen folgt der Wortbruch, seiner Freude die bewusst provozierte Enttäuschung. Verwundert am Anfang, dass eine Legitimation der Macht nur durch Kunde von außen erfolgt, deutet die Schnelle der Delegitimation auf ein bereits länger vorhandenes  Bewusstsein dieses Zustandes hin. Scheinbar fehlt ihm grade hier die Fähigkeit, das Erfahrene einzuordnen; der Einfluss von Teufel auf König, von König auf Kreuz, von Kreuz auf Teufel führen nicht zum Umkehrschluss und der Einsicht des möglichen Fehlverhaltens, Wir wissen mehr von dem, was er nicht kann (fasten) und nicht weiß (beten), als von dem, was ihm bekannt ist, dem einen Fluss, der den Menschen ihr Leben nimmt. Er teilt wenig mit und ist doch als mal rationales, mal irrationales Wesen präsent, dass die Situation zu eskalieren sucht, um sein Gegenüber in eben der vorgeworfenen Machtlosigkeit zurückzulassen. Ihren Ursprung haben muss diese Energie, mit der er sich aus jeder Verpflichtung auf ein Neues befreit, folglich nicht in der Kraft der Überlegung, sondern in den Gefühlen, denen dieser Reprobus nur eine rationale Manifestation erlaubt; eine Energie, die durch Aussprache des Unfassbaren, des „Furchtbaren“ erst zutage kommt, reagiert und zerstört, was ihn halten soll. Eine Furcht, erst vor dem Namen, dann dem Zeichen. Eine Furcht, die selbst jener erfährt, der gleich Reprobus von „furchtbarem“ Anblick ist, sich also nicht im Äußeren offenbart und doch präsent ist. Die eigene Furcht entdeckt er erst im Moment des drohenden Todes, scheint aber vorher bereits der Furcht seiner Gefährten in seiner Sensibilität hilflos ausgeliefert. „Gelebt“ ist diese Emotion das absolute Ausschlusskriterium jeglicher Immanenz von Macht, sie führt zur Aberkennung des von ihm Anerkannten – obwohl der Prozess des Zuspruchs absoluter Macht weder dem Anerkannten offensichtlich oder bekannt ist, noch auf einer rationalen oder zumindest empirisch überprüften Grundlage beruht. Die Macht als Gegenpol zur Furcht. Mächtig nur, wer sich nicht fürchtet. Die Art der Manifestation – die offensichtliche Macht des Königs, die versteckte Macht des Teufels, die sagenhafte Macht Jesu Christi – unterscheidet er nicht. Es zählt, dass der Herrscher als mächtigster benannt wurde; parallel dazu ist es auch erst der Name eines anderen, der Reaktion und Aberkennung bewirkt. Als jedoch nicht ein Name, sondern ein Zeichen diese Furcht auszulösen scheint, obwohl es das Zeichen eines längst Verstorbenen ist, ignoriert er diesen Umstand und projiziert den Mächtigen in die Gegenwart; will sich sogar auf die Suche nach diesem begeben. Dabei geht Reprobus von der Grundannahme aus, dass nur der Mensch der wahre Ursprung jedweder Furcht ist.

3. Reprobus als Suchender

In dieser Personifizierung gleichgestellter Personen deutet sich nun langsam das wahre Ziel seiner Suche an, die eben deshalb auch die transzendente Ebene nicht benötigt: Die Suche nach dem Mensch. Als dieser schon vom Namen her ausgeschlossen, fernab von Heimat und Vergangenheit, sucht er nicht die Macht, sondern denjenigen, der ihm änlich sein könne; wählt ein Kriterium für dessen Eignung in direkter Korrelation zu seiner „Größe“, findet diesen einen Menschen und hinterfragt dessen Legitimation in dieser instabilen Position gerade deshalb nicht, um eben nicht zu verlieren. Er ist angekommen um zu bleiben. Doch der auserwählte Mensch fürchtet sich – und er selbst, der größte Krieger, kann ihm kein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Reprobus sieht sich selbst mit dem nicht Fassbaren konfrontiert. So erklärt sich auch die irrationale Eskalation der Situation seitens Reprobus, der sich eben nicht nur in seiner „Größe“, sondern in seiner ganzen Existenz hinterfragen muss; ist er doch nicht in der Lage, seine einzige Fähigkeit der Kraft dem anderen zum Schutze in Dienst zu stellen. Es ist eben diese Angst vor dem Irrationalen, die ihn den Mächtigeren suchen lässt, ihn gleichsam aus der Verantwortung nehmen und in Dienste stellen will. Doch auch den Teufel kann er nicht vor der Angst des noch aus dem Tode Wirkenden schützen, muss hilflos zusehen und scheitert auch daran: Er bricht sein Wort, macht sich selbst „unglaubwürdig“ und flüchtet vor dieser Enttäuschung in die einseitige Beziehung zur Idee des Mächtigen. Aber hier zeigt sich wieder, dass er sich auf Augenhöhe mit dem Herrscher sehen will: Die Absage der Forderungen dieses Königs als Grundlage einer gleichberechtigten Beziehung.

Diese Suche nach dem Menschen auf Augenhöhe offenbart sich noch stärker in dem Lebewohl, „valeas“, denn sowohl Teufel als auch König sind nicht eine moralische Person – haben sie in ihrem Handeln doch nicht einziges Mal ihr Wort gebrochen, Bedingungen gestellt geschweige denn die Wahrheit verschwiegen; sie dienen letztendlich nur als Platzhalter. Reprobus zieht auf seiner Suche nach dem Menschen nicht im Groll weiter, seine Enttäuschung gilt ihm selbst, denn er weiß um die „Mensch“-lichkeit von König und Teufel; wollen doch beide, dass er seine Drohung nicht wahrmacht und bei ihnen verweilt. Er wünscht beiden, dem „Guten“ und dem „Bösen“, ein aufrichtiges Lebewohl – leidend an seiner Unfähigkeit zur Teilnahme, seinem Wortbruch und an der Enttäuschung seines selbst erschaffenen Glaubens.

4.  Reprobus als sich selbst Erkennender

So scheitert Reprobus mit jedem Versuch, der Sehnsucht nach Mensch-Sein nachzukommen. Diese Menschwerdung ist ihm nicht durch Fasten, noch durch Beten zugänglich. Er muss aus der gewohnten Ordnung ausbrechen, aus dem Bereich der Trinität aus König – Teufel – Priester als weltliche Parallele zur göttlichen, hinein in das aktive Handeln einer Tätigkeit, deren Bedeutung ihm erst zuletzt offenbart wird. Lange Zeit trägt er die Menschen über das Wasser, trägt sie aus einem Leben in Furcht hinein in ein besseres, rettet sie so nicht nur vor den Gewalten des Wassers, sondern auch denen des Landes. Bewegt durch den Willen, dem Mächtigen zu dienen und beschränkt durch alte Verhaltensmuster, braucht er die Erfahrung der eigenen Furcht, die Erfahrung der Gewalten des Wassers und des Landes. Bis zum Extrem getrieben im Moment der Todesangst, lässt sie ihn nicht nur das Kind auf seinen Schultern, sondern vor allem sich selbst erkennen.

5. Menschwerdung

Er wird Mensch durch Erfahrung; wird Mensch durch den Gegenpol der gesuchten Macht, der Macht der Menschlichkeit, die sich gleichsam als Zeichen der Hegemonie in der fragilen Form des Kindes offenbart. Seine eigene Furcht in ihrem flüchtigen, irrationalen Charakter betrachtend, erkennt er durch Christus sich selbst, weiß er doch erst jetzt um die Last, die er auf seinen Schultern trug; die Last, die er unbewusst hunderte Male über den Fluss gesetzt hat. Reprobus kann so die Furcht jedes einzelnen Reisenden spüren, den er getragen hat; spürt die Wirkung im Leben anderer, die er immer nur zu suchen und nie zu finden glaubte und erkennt schließlich, die ganze Welt auf seinen Schultern getragen zu haben. Im Kontext der Liebe erkennt er in dem durch Todesangst bewusstgewordenen Lebenswillen nicht Christus als Macht der Liebe, sondern vielmehr noch den eigenen Akt der Nächstenliebe, den er an jedem Reisenden vollbracht hat; erkennt, dass sich das ihm unmöglich Scheinende im eigenen Handeln offenbart hat. Es ist also doch eine Glaubenserfahrung, die er erst als Christophorus macht. Ein Glaube, der nicht der Palme oder des Wunders bedarf, sondern der Glaube an die Menschlichkeit, der Glaube, dem Menschen Mensch zu sein, und schließlich der Glaube an sein eigenes Mensch-Sein. Die Geschichte des Heiligen Christophorus ist die Geschichte einer Metamorphose: weg vom „christlichen Herakles“, der Personifikation antiker Kardinaltugenden, hin zu dem Handelnden, dessen Suche der göttlichen, „unfassbareren“ Tugenden der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens ihn erst ganz Mensch werden lassen. Es ist auch heute die Geschichte eines Menschen, der sich an der Welt messen will und doch aus dem Raster fällt; eines Menschen, der die Beziehung sucht, sich der Verantwortung aber nicht gewachsen fühlt; der sein Wort bricht, um sich dem Besseren zu verschreiben, sich nicht festlegt und ständig getrieben ist. Es ist die Geschichte eines Menschen, der in seinem Handeln bezeugt, was er selbst nicht mehr glauben kann; der, um Mensch zu werden, die Last anderer auf sich nimmt. So ist Reprobus ein jeder, der sich auf die Suche nach der eigenen Menschlichkeit, dem eigenen Mensch-Sein macht; ein jeder, der den Menschen Mensch sein will und dabei erkennt, dass aus Flüssen von damals die Meere von heute geworden sind …

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